"Wertach im Allgäu sieht inmitten der Sommerferien so aus, als hätte es bessere Zeiten erlebt. Verzweifelt suche ich zu besten Mittagszeiten nach einem offenen Lokal. Okay, ein Montag ist nicht der beste Tag dafür... Fast hätte ich auf einen Snack zurückgegriffen, wenn nicht plötzlich die Sonne in der zentralen Markstraße aufgegangen wäre. Ein wunderschönes, gelb gestrichenes Gebäude steht stolz an der Straße und verkündet: Ich war ein Gasthaus! Heutzutage strahlt es im shabby chic mit seiner leicht morsch wirkenden Fassade, dem abgestoßenen Interieur und der abblätternden Farbe, kombiniert mit einer verklebten Steinfront, venezianischen Leuchtern und vielen stilvollen Blickfängern. Das hat Stil! Doch bei der Aufschrift „Beim Olivebauern“ wurde ich wach. Hatte ich dieses Interieur nicht schon einmal in Füssen gesehen? Und siehe da, der Olivebauer ist eine geschickt inszenierte Marke mit mehreren Dependancen: in Füssen, in Wertach, in Hopfen am See. Immer im gleichen Stil, immer mit dem gleichen gekonnten Mix aus südländischer Küche, regionalen Delikatessen und hippen Accessoires. In Zeiten des emotionalen Storytellings wird auf der Homepage eine feine Geschichte erzählt. (Man nehme einen elektrischen Meister, ein altes Gebäude, einen Esel und viel gutes Olivenöl – das klingt fast wie ein modernes Märchen, oder?) Nicht nur Ambiente und Menü arbeiten international und multikulti, auch der Service trägt dazu bei. Der verwinkelte, skurrile Betrieb mit osteuropäischem Akzent und alpenländischem Dirndl-Oberteil ist äußerst kundenorientiert, mega-freundlich und die gute Laune in Person. So viel Engagement und Freude an der Arbeit sind selten. Auch die Gäste, die schon vor uns auf der großzügigen Holzterrasse Platz genommen haben (Freundeskreise und junge Mütter mit französischen Kindern sind sehr gesellig), tragen zur Atmosphäre bei. Falls wir nicht möchten, dass die Karte halb heruntergeplätschert wird, wird uns das großformatige Menü bereits vom Nebentisch serviert. Es gibt zahlreiche Leckerbissen, auf die wir noch tagelang Lust hätten: z.B. eine südfranzösische Gemüsepfanne mit Pesto (9,90 Euro), ein Mustern Bier mit Käse, Gewürzgurke, Salat und allem Pipapo (für günstige 7,90 Euro) sowie eine Dinkelmehl-Pizza Berlusconi mit Garnelen, Shrimps und Knoblauch (10,40 Euro) und viele weitere. Aus dem attraktiven Angebot wählen wir die Allgäuer Käspatzen mit Salat (8,90 Euro) und eine Pizza Allgäu (ebenfalls 8,90 Euro), sowie eine große Johannisbeerbowle (0,4 Liter für sehr günstige 2,90 Euro) und einen großzügigen Kaffee zum ebenfalls fairen Preis von 2,90 Euro. Die Getränke werden schnell serviert, das Essen folgt nach etwa einer Viertelstunde. Die Portionen sind riesig, der Geschmack fantastisch, die Stimmung hebt sich. Die riesige Pizza mit superfinem, lockeren Boden ist unkonventionell belegt mit Bauernkäse, Peperoni, Emmentaler und Knoblauch. Gut zum Aufessen! Die Käspatzen sind großzügig in einer schalenartigen Form angerichtet, wie überall im Allgäu, und vereinen eine wunderbare Mischung aus herzhaftem Bergkäse und geschmackvollem Emmentaler. Der dazu servierte grüne Blattsalat sieht klar aus, überzeugt jedoch durch ein ungewöhnliches, hausgemachtes Senfdressing, das in der Farbe an hellen Kakao erinnert. Großartig! Wenn nur unser Magen ein wenig größer wäre... Die aufmerksame Servicekraft sieht uns bereits die Schwäche an und bietet an, die Reste einzupacken, was sie mit ansteckender Energie tatsächlich auch tut. Das lobe ich! Übrigens war die Johannisbeerbowle gut gekühlt und sehr erfrischend, der Kaffee aromatisch. Bei meinem letzten Toilettengang inspiziere ich noch das kreative Interieur. Hier treffen halb versteckt die Überreste des ehemaligen Gasthauses auf rustikales Interieur, authentische Holzmöbel, rauen Steinboden, venezianisch wirkende Verzierungen, schöne Vasen und viele grüne Pflanzen. Dazwischen geschnittene Kanten, abblätternde Farbe und ein leicht melancholischer Hauch. Eine sehr gelungene, individuelle Mischung, die man in diesem abgelegenen Allgäuer Dorf nicht erwartet hätte. Dennoch ist alles ordentlich und sauber und voller Eifer. Nach dem Essen machen wir einen Spaziergang zum nahen Kurpark und kühlen unsere heißen Füße im erfrischenden Kneippbecken. Ja, es ist fast wie 1965, beim letzten Urlaub mit Oma und Opa..."